Sehr geehrte Frau Giffey,
bevor ich Ihnen als gemeinsame Vorsitzende und Spitzenkandidatin für die kommende Wahl zum Abgeordnetenhaus den Anlass meines offenen Briefs darlege, möchte ich Ihnen meinen Respekt für wichtige Leistungen als Bundesfamilienministerin ausdrücken, so beispielsweise mit der vom Bundeskabinett beschlossenen Verbesserung des Elterngeldes oder z.B. auch für die mehr und mehr sichtbar werdenden Fortschritten der Konzertierten Aktion Pflege. Hier werden nicht nur wichtige Zeichen in die Gesellschaft hineingetragen, sondern tatsächliche Fortschritte erzielt, und zwar nicht zuletzt auch und gerade für Menschen, deren (Lebens-)Leistungen bislang nicht immer im Mittelpunkt politischen Handelns gestanden haben.
Auch empfinde ich Ihr Eintreten für einen handlungsfähigen Staat, der insbesondere dafür sorgen soll, dass die Schwächsten nicht unter die Räder kommen, als ein wichtiges Thema (https://www.franziska-giffey.de/ich-stehe-fuer-den-starken-staat/). Es ist insofern bedenkenswert und sicherlich zu begrüßen, dass Sie im kommenden Wahlkampf laut Medienberichten dem Thema Sicherheit einiges Gewicht beimessen, es zu einem Ihrer Hauptthemen machen wollen.
Umso mehr bleibt mir aber unverständlich, wie an maßgeblicher Stelle Sozialdemokraten die heute in zweiter Lesung behandelte Gesetzesvorlage in das Abgeordnetenhaus einbringen konnten. Denn deren Gehalt ist, wie ja umfassend nachgewiesen, evident sachwidrig, unzureichend und unangemessen und weist insofern in einige Richtungen hin, aber ganz sicher nicht in die von mehr Sicherheit und schon gar nicht auf ein Mehr an Rechtssicherheit. Denn vielmehr stößt jene Vorlage ob ihres verfassungswidrigen Gehalts die Berliner Beamten in den Zustand vormoderner Rechtsunsicherheit zurück, da die Alimentation in willkürlicher Art und Weise wie ein Privileg verfasst wird, das gewährt werden kann oder eben auch nicht. Mit Sicherheit hat all das aber nichts zu tun und auch nicht mit der Stärkung des Staates und seiner Handlungsfähigkeit.
So verstanden stellt sich mir die Frage, wie die Sozialdemokratische Partei für mehr Sicherheit sorgen will, wenn den verbeamteten Beschäftigten im öffentlichen Dienst – sei es in Krankenhäusern und Altenheimen oder im Polizei- und Justizdienst, im Bildungssektor und in der öffentlichen Verwaltung, in Ämtern und Behörden und öffentlichen Betrieben usw. – ihre grundgesetzgleichen Rechte willkürlich verwehrt, sie nach wie vor vorsätzlich sehr deutlich unteralimentiert werden? Wie will man von sozialdemokratischer Seite darüber hinaus für mehr Sicherheit sorgen, wenn man zugleich die judikative Gewalt beschädigt? Glaubt man in der SPD wirklich, dass man für von staatlicher Seite garantierte größere Sicherheit sorgen könne, wenn man jenen, die für diese an zentraler Stelle mit sorgen sollen, die eigene Sicherheit und also insbesondere auch die Rechtssicherheit nimmt? Und soll eine solche Form der „Sicherheit“ zukünftig durch weitere entsprechend rechtstaatsverletzende Gesetze flankiert werden? Wie also wollte die Sozialdemokratische Partei das Thema am Ende in den Wahlkampf einbringen, wenn sie es bereits vor dessen Beginn für große Teile des öffentlichen Dienstes suspendieren sollte; und wäre es dabei wirklich politisch weiterführend, genau jene so zu behandeln, mit denen man gemeinsam nach der Wahl seine Ziele umsetzen, etwas bewegen will (https://www.tagesspiegel.de/berlin/interview-mit-berliner-spd-spitze-giffey-und-saleh-wir-muessen-auch-beim-linksextremismus-grenzen-deutlich-aufzeigen/26286036.html)?
Diese Fragen stellen sich mir – und mich überzeugende Antworten finde ich so recht keine. Insofern würde ich mich über Ihre freuen, getreu Ihrem Motto: „Ich schaue bei Problemen nicht weg, sondern ganz genau hin.“
Mit freundlichen Grüßen nach Berlin
Torsten Schwan
Ein rhetorisch brillant vorgetragener Brief von Herrn Dr. Schwan, welcher den Finger in die Wunde legt, indem er präzise die Widersprüche zwischen Wollen und Handeln anspricht. Ich bin auf die Antwort von Frau Giffey sehr gespannt.